Wednesday, January 24, 2007

Migration

6.4.1 Migration

Wichtig innerhalb der Traditionen der Minangkabau ist die Praxis von merantau - im Sinne von Hinaus-Migration aus dem Kernland. Das Wort merantau ist zusammengesetzt aus dem Präfix ,,me-`` und dem Hauptwort rantau, in der ursprünglichen Bedeutung von Grenzline, erreichen eines Flusses, Ausland, fremde Länder. Unter merantau wird das Verlassen des Heimtdorfes im Kernland verstanden. Merantau ist aber kein Produkt der Urbanisierung, sondern tief in der Geschichte verwurzelt. In den lokalen Mythen und Legenden wird über die frühen Minangkabau-Siedler berichtet.6.88

Die Beziehungen zwischen dem Kernland und der Küste sind wesentlich für das Verständnis der Minangkabau-Traditionen. Ihre geschützte Lage im Hochland und der Zugang zu den Küstenregionen führten zu permanenten Abwanderungs- und Siedlungsbewegungen. Dabei war die Umgebung von Padang an der Westküste, aber auch die Niederungen der Ostküste bevorzugte Zielregionen, die teilweise Ausgangspunkte weiterer Migrationsbewegungen bildeten. Eine dieser nachfolgenden Migrationen führte auf die malaysische Halbinsel und zur Gründung von Negari Sembilan, wie auf andere indonesische Inseln.6.89

Heute können - nach Kato - drei Phasen oder Typen von geographischer Mobilität bei den Minangkabau unterschieden werden:

1.
Dorfsegmentierung: Seit der legendären Periode bis ins frühe 19. Jahrhundert. Ausschlaggebend war dafür die Verknappung von Land durch den Anstieg der Bevölkerungszahl. Die Segmentierung geht von einer Matrilineage oder einer matrilinearen Sublineage unter der Führung eines männlichen Lineage-Oberhauptes aus und führt zu einer permanenten Neuansiedlung. Mit der Etablierung des holländischen administrativen Systems der Verwaltung wurde die Möglichkeit der Dorfsegmentierung unterbunden.
2.
Kreisförmige Migration: Vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre. Darunter versteht man eine individuelle Bevölkerungsbewegung von unverheirateten oder verheirateten Männern, die aus Landmangel und/oder persönlichen Ambitionen in Städte der näheren Umgebung wandern. Die geographische Mobilität ist dabei nicht permanent. Es wird der Kontakt zum Ursprungsdorf aufrechterhalten, vor allem dann, wenn der Mann verheiratet ist und seine Frau und ihre gemeinsamen Kinder zurückbleiben. Regelmäßige Besuche (1 bis 2 Mal im Jahr) sind üblich.
3.
Merantau Cino oder chinesische Migration: seit den 1950er Jahren bis heute. Bei dieser Form migriert generell die Kernfamilie als Einheit, d.h. der Ehemann verläßt als erste das Dorf und holt seine Frau und die gemeinsamen Kinder später nach. Die Migrationsrichtung sind große Städte, wie Jakarta. Die psychologische Bindung mit dem Heimatdorf bleibt bestehen, aber Besuche sind äußerst selten. Woher der Begriff merantau Cino stammt, kann nicht eindeutig geklärt werden, dürfte aber grundsätzlich auf die traditionellen Migrationsmuster von Chinesen nach Indonesien zurückzuführen sein, die ihren Wunsch nach Rückkehr in ihr Ursprungsdorf bewahren, obwohl dies selten vorkommt.6.90
(1) Dorfsegmentierung: Die Bevölkerung des Hochlandes der Minangkabau hat sich vom Ursprungsdorf über Jahrhunderte ausgebreitet. Dieser Vorgang wird nagari-Segmentierung genannt. Für die ersten Wanderungen wurden wahrscheinlich die Flüsse bevorzugt, da der Dschungel nur schwer zu durchdringen war. Diese Annahme beruht auf einen Bericht von Tomas Dias, der als erster Europäer im Hochland der Minangkabau genannt wird. Er reiste von der Ost-Küste über den Siak Fluß stromaufwärts und legte das letzte Stück nach Buo zu Fuß zurück. Dias traf mit dem Minangkabau ,,Herrscher`` 1684 zusammen.6.91

Die Schwierigkeit der Rekonstruktion dieser frühen Migration liegt darin, daß sich die Minangkabau nicht auf die Dorfsegmentierung als merantau beziehen. Dadurch fehlt ein wichtiges historisches Bindeglied, das die Vergangenheit mit der Gegenwart und der geographischen Mobilität der Minangkabau verbinden könnte. Über tambo werden nur vage Informationen über die Richtung der Wanderungsbewegung in der Vergangenheit gegeben. Danach hatte jedes der drei luhak (Luhak nan Tigo: die drei ersten Gemeinschaften im Kernland, genannt: Tanah Datar, Agam und Limapuluh Kota) eine grob identifizierbare Präferenz: die Menschen von Tanah Datar tendierten nach Süden und Westen; von Agam verlief die bevorzugte Migrationsbewegung nach Norden und Westen und von Limapuluh Kota nach Osten. Es wird vermutet, daß die Migration zur Westküste nicht die Folge des Bevölkerungsanstiegs war, sondern die Nachfrage nach Salz. Genauere Aussagen sind nicht möglich, da es keine Detailstudien zu den einzelnen Regionen gibt.6.92

Der rapide Bevölkerungszuwachs zwang zur Dorfsegmentierung: Ein Teil der Bevölkerung bewegte sich ,,rantau hilir`` (flußabwärts rantau) nach Osten. Die Migrationsrichtung zwang die Bevölkerung, die Bukit Barisan Gebirgskette in Richtung der wichtigsten Flüsse nach Osten zu überwinden (den Siak, Kampar, Indragiri und den Batang Hari Fluß, die alle in die Straße von Malakka münden).6.93 Das Bevölkerungswachstum stimulierte die Wanderungsbewegung ebenso wie der Handel (Gold, Pfeffer, Zinn) und die Suche nach Goldvorkommen, die zu neuen Niederlassungen führten. Denn die Kenntnisse des Abbaus und der Verarbeitung war nur einigen wenigen lokalen Gesellschaften bekannt. Resultat der Goldsuche waren z.B. auch Niederlassungen in Nordwest Jambi. Als in den Gebieten ,,rantau hilir`` 1674 Zinn entdeckt wurde, nahm die Holländische Ostindien Kompanie direkte Kontakte mit den Minangkabau des Kernlandes auf. Dies führte zur Unterzeichnung eines Vertrages im Jahr 1676 zwischen den Holländern mit den drei zinnproduzierenden Dörfern: Kabon, Kota Rena und Gitti.6.94

Das universelle Problem von segmentären Gesellschaften tritt zwischen Bevölkerungswachstum und begrenztem Agrarland auf. Die übliche Form dieses Problem zu lösen, war nicht die Intensivierung des Bodenbaus, sondern eine geographische Bevölkerungsbewegung. Kato nimmt an, daß die häufige Migration der Minangkabau selbst für das Überleben des matrilinearen Systems ausschlaggebend war.6.95 Nach Kato spielte bereits in den Ursprungslegenden der Minangkabau die Migration eine entscheidende Rolle. Die Beziehung zwischen darat (Ursprungsland) und rantau (Grenzzone) sei die Manifestation der Mobilität. Dies stehe im Zusammenhang mit der Identifikation mit dem ersten Dorf, genannt Pariangan Padang Panjang, von dem die ursprüngliche Expansion ausging. Die Legende über den ersten Maharaja Diraja wird in Beziehung zur Genesis der Minangkabau gebracht, die die geographische Wanderungsbewegung von einem Ort zum anderen beinhalte. Tambo (Ursprungserzählung) erklärt vier Zustände der menschlichen Ansiedlung:


11a taratak is built, Then the taratak becomes a dusun, Then the dusun becomes a koto, Finally the koto becomes a nagari.6.96

Taratak ist eine neue, kleine Ansiedlung mit einigen Hütten, die meist von Wald umgeben sind. Die ersten Felder werden durch das Fällen von Bäumen angelegt. In der Minangkabau Tradition gilt diese Form der Ansiedlung noch nicht als echte Niederlassung. Im dusan-Zustand wird das Leben stabiler, es werden permanente Häuser gebaut und es findet der Übergang vom Trocken- zum Naßreisanbau statt. Damit wird die Grundlage für den Ahnenbesitz geschaffen und die ersten Lineage-Oberhäupter eingesetzt. Im koto ist der Haushalt vollständig, das balai (Versammlungshaus) wird gebaut und ein sicheres sakato (Wort, Konsens) der Siedler entsteht. Im Sinne der Minangkabau bildet das Nagari die höchste Ordnung der menschlichen Ansiedlung. Kato übernimmt das folgende Zitat von Bachtiar, der eine Detailbeschreibung dieses Transformationsvorganges für das Dorf Taram wiedergibt:


11oral tradition relates that in very early times the ancestors of the Taram villagers left their original home, as did the ancestors of many other Minangkabau people, to wander through the dense jungle of the Padang Highlands until they reached the foot of Sago Mountain, where they established a settlement named Tepatan. ...This spot on the bank of the Sinamar River, which at this point is broad and sluggish, was still jungle, but it was thought a favorable place to build a small hamlet (taratak). [...] ...trees are cut, bushes trimmed, mines exploited, and virgin soil upturned, it may safely be assumed that these ancestors, after having cleared the site to build their dwellings, went out to explore the surrounding jungle area and at this time marked trees, with a chopping knife, thus indicating that they had taken possession of the area. ...
The new settlement soon grew into a dusun called Sawah Tjompo, a name indicating that wet rice fields were already in use. ...
As time passed more people from other areas came to join the village settlement, and the original inhabitants themselves also increased in number. ...Although each family group built its own house and cultivated its own piece of land, the settlers were very much aware that they could not live without each other's assistance. Various common needs established strong ties between them, and they then wanted a place where meetings could be held to discuss matters of common interest. Thus the first balai or village council hall was built, and with it a koto was born, although not yet a negeri [nagari]. ...
As the number of inhabitants increased, a political structure had to be created to regulate and coordinate village affairs. The family heads organized themselves by dividing the various rights and duties, creating specialized functionaries, formulating the most essential norms to be adhered to by all villagers, determining the boundaries of village territory, and satisfying all the requirements necessary for the creating of a negeri.6.97

Das wiedergegebene Zitat bezieht sich auf Oraltraditionen und veranschaulicht in beeindruckender Weise die unterschiedlichen Phasen einer neuen Ansiedlung und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um überhaupt von einem neuen Dorf sprechen zu können. Liegt das Ursprungsdorf nahe der neuen Ansiedlung, bleibt die enge Beziehung weiterhin bestehen. Die Voraussetzung für ein funktionierendes Dorf sind aber auch Kommunikationswege (Straßen), ein Gemeinschaftshaus, religiöse (heute Moschee) und sanitäre Einrichtungen (ein öffentlicher Badeort) und Naßreisfelder. Dabei wird darauf hingewiesen, daß dieser Übergang nur von den Siedlern selbst durchgeführt werden kann. Um in einer neuen Ansiedlung ein Suku und einen Penghulu zu etablieren, war die Zustimmung des Mutter-Suku nötig.6.98

(2) Kreisförmige Migration: Die Migranten kehrten jährlich während des Fastenmonats Ramadan in ihr Heimatdorf zurück, um zu heiraten, später um ihre Frauen und Kinder zu besuchen und ihre Verwandtschaftsbeziehungen zu pflegen. Frauen war es früher nicht erlaubt, das Haus ihrer Mutter zu verlassen. Wenn die Migranten in ihr Heimatdorf kamen, brachten sie ihre Jahreseinkünfte mit, die in Familienprojekte investiert wurden. Es wurde entweder ein neues großes Familienhaus gebaut, oder religiöse Zeremonien wie z.B. Hochzeiten finanziert. Diese zusätzliche finanzielle Unterstützung von außen erlaubte es, daß das matrilineare System weiterhin gepflegt werden konnte, und sich relativ wenig veränderte. Die Migranten kamen aber vorwiegend von den Hügeln der Hochebenen, denn in den Hochebenen ist der Anteil der Männer, die das Heimatdorf verlassen gering.6.99

(3) Merantau Cino oder chinesische Migration: Diese Art der Migration führt zu gravierenden Veränderungen der traditionell von der Landwirtschaft lebenden Minangkabau-Bevölkerung. Immer häufiger folgen die Ehefrauen ihren Männern in die Stadt - vor allem dann, wenn sie eine Position als Beamte innehaben. Junge ungebundene Frauen verlassen das Dorf, um eine höhere Bildungseinrichtung besuchen zu können, aber auch ältere Frauen, häufig Witwen, migrieren mit ihren Kindern in die Städte. Die Migrationsmuster haben sich heute an die neue Situation angepaßt und die kreisförmige Migration (circulatory merantau) wurde von der chinesischen Migration (merantau Cino) abgelöst.6.100

Franz und Keebet Benda-Beckmann beschreiben in ihrem Artikel in erster Linie die Veränderungen, die die Situation der Frauen betreffen, wenn sie das Familienland verlassen und in die Stadt ziehen. Damit sind sie von der wirtschaftlichen Grundlage (den Reisfeldern) und ihrer matrilinearen Abstammungsgruppe getrennt. Der Lebensunterhalt in der Stadt wird vorwiegend vom Ehemann durch Erwerbsarbeit finanziert. Franz und Keebet Benda-Beckmann bemerken, daß vor 10 Jahren (1975) Frauen nach der Scheidung im Haus des Ehemannes mit ihren Kindern weiterhin leben konnten, dies sei aber nicht mehr möglich. Das Einkommen der Frauen ist niedriger und sie können allein nicht für sich und ihre Kinder sorgen. Als einziger Ausweg steht die Möglichkeit offen, wieder ins Dorf der Abstammungsgruppe zurückzukehren. Dabei spielt aber der Job, den der Ehemann ausgeübt hat, eine wichtige Rolle: ,,Je höher die Stellung des Mannes ist und je höher sein Status, besonders bei Beamten, desto größer ist der gesellschaftliche Abstieg im Falle einer Scheidung und somit die Abhängigkeit der Frau von ihrem Ehemann``.6.101 Grundsätzlich kann angenommen werden, daß die unabhängige Stellung der Frau nur dann gesichert bleibt, solange die uxorilokale Residenz und matrilineare Vererbung des Familienlandes aufrechterhalten wird.

Von Franz und Kebeet Benda-Beckmann wird ein Beispiel einer Minangkabau-Gruppe in Malaysia, Negeri Sembilan, genannt. In Malaysia wurde die Bedeutung der Landwirtschaft zurückgedrängt und die Urbanisierung ist weiter fortgeschritten. Die eingetretene Abwertung der Landwirtschaft führt zum sozialen Abstieg, wenn die Frau die Stadt verläßt und wieder aufs Land zieht. In dieser Situation gehen die Scheidungsraten zurück, wie das Beispiel Malaysia mit 25 % zeigt, die vorher wie in Westsumatra bei 50 % lag.6.102

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