Wednesday, January 24, 2007

Matrilinearität und Uxorilokalität bei den Minangkabau

6.4.4 Matrilinearität und Uxorilokalität bei den Minangkabau

Der Wandel in der traditionellen Minangkabau-Gesellschaft kann nicht aufgehalten werden. Grundsätzlich verändert sich jede Gesellschaft, entscheidend ist aber, ob sie sich freiwillig verändert. Im Unterschied zu den irokesischen Stämmen, die durch die Übersiedlung in Reservate ihre bisherige Lebensweise gezwungenermaßen aufgeben mußten, scheint sich der soziale Wandel innerhalb der Minangkabau-Dörfer langsam und ohne dramatische Veränderungen zu vollziehen.

Im Vergleich zu den anderen empirischen Beispielen (die irokesischen Stämme und die ausgewählten Beispiele des matrilinearen Gürtels in Afrika) scheinen mir folgende Punkte zu den Minangkabau wesentlich zu sein:

1.
Die Matrilinearität und Uxorilokalität sind auch hier nichts ,,Ursprüngliches``, sondern das Resultat eines sozialen Wandels; dieser Wandel war aber nicht von außen induziert, etwa durch einen ,,Import`` dieser Sozialstrukturen durch indische Händler, wie Loeb und Dobbin behaupten. Man kann auch hier von einem endogen verursachten Prozeß ausgehen.
2.
Nach den theoretischen Grundannahmen von Divale waren Migration und externale Kriegführung die entscheidenden Faktoren, die bei sehr anpassungsfähigen Gesellschaften den Wandel einleiteten. Im Falle der Minangkabau lassen sich die historischen Prozesse aufgrund der derzeitigen Forschungslage nicht genau rekonstruieren. Dennoch deuten die Befunde in diese Richtung: ich erinnere an die Turbulenzen des 14. Jahrhunderts (Migration oder Flucht von Adityavarman und seiner Gefolgschaft: Majabahit/Java - Malayu/Ostküste von Sumatra - Westküste von Sumatra - Hochland als Rückzugsgebiet), welche historisch durch Inschriften belegt sind und die mit einiger Sicherheit eine Migrationsbewegung dieser Bevölkerungsteile Sumatras in die Hochebene des späteren Minangkabau-Hochlandes ausgelöst haben dürften. Leider sind die historischen Belege dafür ziemlich dürftig. Es spricht jedoch einiges für diese Hypothese, zumal es sich hier um ein typisches Rückzugsgebiet handelt.
3.
Im Vergleich zu den irokesischen Stämmen und etwa zu den Bemba fehlen für die Minangkabau auch eindeutige Hinweise für die Art ihrer Kriegführung. Auffällig ist jedenfalls das Fehlen einer entsprechenden Tradition bei den Minangkabau, welche darüber Aufschluß geben könnte. Ich habe den Eindruck, daß die Minangkabau ihre kriegerische Vergangenheit unterdrückt haben und erkläre mir dies aus den Ereignissen, die zur Kolonialisierung durch die Holländer geführt haben: möglicherweise fühlen sich die Minangkabau ,,verantwortlich`` für diese Geschichte, da sie ja seinerzeit die Holländer um Hilfe gegen die Anhänger der radikalen islamischen Padri-Bewegung gebeten hatten. Handelt es sich um eine Art ,,kollektives Vergessen``? Es wäre denkbar, denn ansonsten ist die in diesem Kapitel ausführlich dargestelle Geschichte ja voll von kriegerischen Ereignissen (Majapahit/Srivijaya: Raubzüge, Überfälle, Zerstörung der Zentren; das Sultanat von Aceh im Norden von Sumatra übte seinen Einfluß an der Ost/Westküste aus; an der Westküste kämpften die Chiefs der Handelszentren untereinander um die Vormacht). Es ist denkbar, daß sich die späteren Minangkabau nach ihrem Rückzug in das heutige Kernland während des 15. und 16. Jahrhunderts in einer starken defensiven Position befanden und sich mit einiger Sicherheit nach außen ,,verteidigungspolitisch`` organisiert haben, z.B. gegen Angriffe auf die Handelsrouten. Dies würde wiederum eine längere Abwesenheit der Krieger/Männer bedeuten, wie wir es auch in den anderen Fällen gesehen haben. Ähnlich wie bei diesen würde dies zunächst einmal den Übergang zur Matrilokalität/Uxorilokalität bedeuten. Für die Minangkabau fiele dies zusammen mit dem Bau des Adat-Hauses. Leider läßt sich der Beginn dieser Tradition historisch nicht eindeutig festlegen; aber ich vermute, daß der soziale Wandel zur Uxorilokalität und später zur Matrilinearität exakt mit diesem komplexen historischen Wandel zusammenfällt.
4.
Die Kernstruktur der matrilinearen Gesellschaft der Minangkabau ist das Adat-Haus. Es bildet eine Wohn- und Lebensgemeinschaft von Frauen und ihren Kindern, in welche sich die Männer in ihren verschiedenen sozialen Rollen einzufügen haben. Wie wahrscheinlich seinerzeit die Ehemänner als Kriegergemeinschaft abwesend waren, so halten sie sich auch (teilweise) heute noch tagsüber nicht im Adat-Haus der Ehefrauen auf. Dieser Zusammenhang scheint mir doch irgendwie auf der Hand zu liegen. Weiters scheint mir der Zusammenhang von Adat-Haus/Wohnort der Frau und Grundbesitz der Frauengemeinschaft auffallend: Männer können keinen Grund und Boden besitzen und folglich auch kein Haus auf eigenem Grund und Boden bauen. Genau dies blockiert - zumindest im Hochland - den Übergang zur Patrilinearität und Patrilokalität oder Neolokalität, der sich bislang nur in den Städten durchsetzen kann.
5.
Matrilineare Gesellschaftssysteme bringen die Männer (vor allem junge Männer) in eine Position der Unsicherheit, welche eine sozialstrukturelle Spannungs- und Konfliktsituation darstellt. Bei den irokesischen Stämmen und den Bemba im südlichen Afrika haben wir das schon gefunden, und so auch bei den Minangkabau, mit der Ausnahme, daß die Ehemänner nicht von ihrer matrilinearen Abstammungsgruppe getrennt leben, sondern in unmittelbarer Nähe (Dorfendogamie). Eine typische Form der Bewältigung dieses konfliktorischen Zustandes in matrilinearen Gesellschaften dürfte sein, daß den älteren Männern, wenn die kriegerischen Auseinandersetzungen abnehmen, Statuspositionen innerhalb der Gesellschaft vorbehalten sind: Männer sind die Chiefs oder auch Paramount Chiefs, sie treffen sich in Ratsversammlungen, um über Dorfangelegenheiten zu beraten; sie haben also die wichtigsten politischen Rollen oder Statuspositionen, die mit besonderem Prestige verbunden sind, wie z.B. bei den Minangkabau der penghulu oder tungganai (Lineage- oder Sublineagevorstand, MuBr der ältesten Frau der Lineage). Man könnte sagen, Frauen dominieren, weil sie ein Monopol auf Grund und Boden haben (inklusive des Erbrechts), Männer dominieren, weil sie die Status- und Prestigepositionen einnehmen. Solange die Expansion der Dörfer durch Segmentierung auf neuem Land möglich war, entstanden in diesem System keine neuen Spannungen; es befand sich irgendwie im Gleichgewicht zwischen einer egalitären segmentären Gesellschaft und den Tendenzen zum Aufbau einer Ranggesellschaft, welche eigentlich schon im 14. Jahrhundert weit fortgeschritten war, als das Srivijaya-Gebilde zusammengebrochen war. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Prozeß der Dorfsegmentierung auf Neuland weitgehend blockiert, d.h. keine Teilung der Abstammungsgruppen, das wiederum bedeutet, daß trotz Zunahme der Bevölkerungszahl keine Möglichkeit besteht, neue Lineage-Positionen für Männer zu schaffen.6.127 Deswegen verstärken sich die Migrationsprozesse, Übergang von Dorfsegmentierung über kreisförmige Migration zur ,,chinesischen`` Migration in die Großstädte. Somit haben wir heute zwei unterschiedliche Minangkabau-Gesellschaften: eine traditionelle des Kernlandes, und eine der Zielgebiete der Migration, wo sich die traditionalen Strukturen der Minangkabau rasch auflösen.

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